Wissen und Technik

Die Hälfte der Bevölkerung wird auch in der Medizin zu häufig ignoriert

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Auch in den Naturwissenschaften spielt Geschlecht in der Forschung eine Rolle. Wird Gender in der Medizin berücksichtigt, führt sie zu besseren Ergebnissen.

Naturwissenschaften gelten oft als neutral und objektiv. Doch gesellschaftliche Haltungen der Forschenden beeinflussen auch hier…

Schon die Gesetze der Physik gäben vor, dass Frauen nicht studieren können, behaupteten führende deutsche Physiker Anfang des 20. Jahrhunderts. Wissenschaftler wie Wilhelm Ostwald argumentierten mit der Thermodynamik, dass Frauen nicht genug Energie in ihrem Körper hätten, um sowohl Fortpflanzung als auch geistige Arbeit zu verüben. Strenge die Frau ihr Gehirn zu sehr an, würde die Qualität ihrer Nachfahren darunter leiden. Frauen könnten also unmöglich zum Studium zugelassen werden, ohne den Fortbestand des deutschen Volkes dadurch zu beschädigen.

Dieser physikalische „Beweis“ wirkt heute lustig. Er zeigt aber auch, wie eng die scheinbar objektiven Naturwissenschaften mit gesellschaftlichen Entwicklungen und Vorstellungen von Geschlecht verbunden sind. Mit solchen Verbindungen beschäftigt sich die Vorlesungsreihe „Gender und Diversity in der Lehre der Naturwissenschaften“ an der Freien Universität Berlin. Dabei geht es historisch und aktuell um ganz unterschiedliche Fragen: Wer überhaupt studieren, forschen und lehren darf, um die Fachkultur und darum, wie Wissen vermittelt wird. Und schließlich auch um die Inhalte der Lehre.

Umkämpfte Gender-Studies

Es gibt wohl kein Studienfach, das politisch so umkämpft ist wie die Gender Studies. Forscherinnen wie Petra Lucht, Professorin für Gender in MINT und Planung an der TU Berlin, stoßen immer wieder auf interne wie externe Widerstände. In Ungarn hat die rechtsnationale Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán das Fach von den Universitäten verbannt, der AfD schwebt in Deutschland Ähnliches vor. Rechte und konservative Medien polemisieren gegen „Gender-Wahn“ oder „Genderismus“. Als Gegenstück zu den angeblich von Ideologie getriebenen Gender Studies werden oft die Naturwissenschaften als scheinbar neutral und logisch betrachtet.

„Auch das Wissen von Forschenden ist ein situiertes Wissen“, setzte Petra Lucht, Diplom-Physikerin und Soziologin, dieser scheinbaren Dichotomie in ihrer Einführungsvorlesung entgegen. Ein Wissen also, das von der sozialen Position und den Diskursen, in denen sich Personen bewegen und über die sie Kenntnisse haben, geprägt ist. Das zeigt das Beispiel der Physiker im Deutschen Reich, aber auch aktuellere Beispiele aus der Forschung. Etwa in der Biologie, wo gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlecht und Zusammenleben häufig unreflektiert auf das Verhalten von Tieren übertragen werden.

Tödliche Nebenwirkungen bei Frauen

Welche Konsequenzen die Nichtbeachtung von Geschlecht in der Grundlagenforschung haben kann, erzählt Sabine Oertelt-Prigione, Professorin für Gendermedizin an der Radboud Universität in den Niederlanden. Sie hält im Rahmen der Vorlesungsreihe einen Vortrag über Geschlechtersensibilität in der medizinischen Versorgung. Ende der 90er Jahre wurden mehrere Arzneimittel dem Markt entzogen, weil es viele, zum Teil tödliche Nebenwirkungen gab, sagt Oertelt-Prigione. Die betroffenen Personen waren überwiegend Frauen. Untersuchungen ergaben, dass die Arzneimittel weder an weiblichen Zellen noch an weiblichen Mäusen oder später an weiblichen Studienteilnehmerinnen erprobt wurden. „Für die Hälfte der Bevölkerung wurden die Medikamente nicht getestet, aber trotzdem an diese Hälfte der Bevölkerung gegeben“, sagt Oertelt-Prigione.

Ein anderes bekanntes Beispiel der Geschlechtermedizin sind die unterschiedlichen Symptome, die Frauen und Männer bei einem Herzinfarkt haben. Auch die Diagnosezeiten unterscheiden je nach Krankheit und Geschlecht der Patienten, was mit den gesellschaftlich geprägten Vorannahmen der behandelnden Ärztinnen oder Ärzte zusammenhängt. Gendersensible Medizin kann also Leben retten. Trotzdem werde sie in ganz Europa noch viel zu wenig beachtet, sagt Oertelt-Prigione. Strukturell sei sie nicht in Studiengängen verankert, oft hänge es an einzelnen, engagierten Personen, ob Studierende überhaupt etwas darüber lernen.

Das Besondere an der Gendermedizin ist, dass es um biologische und gesellschaftliche Fragen gleichzeitig geht. „Wir haben in der Medizin sowohl mit Zellen als auch mit Menschen zu tun“, sagt Oertelt-Prigione. Auf der einen Seite stehen Chromosomen, Gene und Hormone, auf der anderen Fragen von Diskriminierung, Zugriff, Kommunikation und Strukturen. Die Professorin führt ein Beispiel aus der Grundlagenforschung an, das zeigt, dass es auf mehreren Ebenen eine Rolle spielen kann, welches Geschlecht die Forschenden haben. So haben kanadische Daten aus der Schmerzforschung ergeben, dass Versuchstiere anders reagieren, je nachdem ob ein Mann oder eine Frau die Experimente durchführt. Die Schmerzempfindlichkeit von männlichen Mäusen ist geringer, wenn Männer die Experimente durchführen. Grund dafür sind die Pheromone, die von dem Forschenden abgegeben werden.

Auch Versuchspersonen sollten diverser werden

„Wir gehen bei Tierforschung davon aus, dass sie objektiv ist“, sagt Oertelt-Prigione. Dass kontrolliert werden kann, wie viele Tiere in einem Käfig sind, wie viel Licht sie bekommen und was sie essen. Doch wer die Tiere eigentlich füttert, würde oft gar nicht aufgezeichnet. „Die Forschenden können in aller vermeintlichen Objektivität auch einen biologischen Effekt auf das Experiment haben“, sagt die Medizinerin. Sich auch in den Naturwissenschaften mit Geschlecht zu beschäftigen, ist also keineswegs widersprüchlich, sondern führt zu präziseren Ergebnissen.

Neues Wissen zu produzieren – das versucht auch Anelis Kaiser, Professorin für Gender Studies in MINT an der Universität Freiburg. Die Kritik an herkömmlicher Forschung sei vergleichsweise einfach, sagt Kaiser. „Wie man das besser machen kann, ist eine viel schwierigere Aufgabe.“ Denn in der Wissenschaft müsse man nun einmal klassifizieren und kategorisieren, um zu Ergebnissen zu kommen.

Für ihre jüngste Studie zur Sprachverarbeitung im Gehirn hat Kaiser zum einen diversere Versuchspersonen ausgesucht, beispielsweise Menschen, die nicht-binär oder intergeschlechtlich sind. Bisher würden die Teilnehmenden der meisten Studien in „Frau“ und „Mann“ eingeteilt, basierend auf dem Namen und dem äußerlichen Erscheinungsbild. „Das ist mir zu unpräzise“, sagt Kaiser. Sie will anhand von Dimensionen wie Verhalten, Ausdruck, Sozialisation und Persönlichkeitsmerkmalen versuchen, Informationen über Geschlecht jenseits der binären Einteilung in weiblich und männlich zu sammeln. Schließlich geht es Kaiser auch um eine diversere Aufgabenstellung als in herkömmlichen Studien. „Wenn man nur Frau und Mann hineingibt, kann auch nur Frau und Mann herauskommen“, sagt Kaiser.

Berührungsängste auf beiden Seiten

Für sie ist es logisch, sowohl die Neurowissenschaften als auch die Gender Studies heranzuziehen, wenn es um Fragen von Geschlecht im Gehirn geht. Während ihrer Arbeit spüre sie aber immer wieder die Berührungsängste auf beiden Seiten. So gebe es anfangs häufig Auseinandersetzungen, wenn sie in ihren Seminaren Studierende aus beiden Fachbereichen zusammenbringe, erzählt Kaiser. „Das sind Welten“, sagt die Professorin. Trotzdem ist sie davon überzeugt, dass nur interdisziplinäres Arbeiten die Forschung weiterbringen kann.

Mehr zum Thema: Die nächste Vorlesung findet am 29. Mai von 16 bis 18 Uhr an der Freien Universität statt (Hörsaal A, Arnimallee 22). Die Politikwissenschaftlerin Hanna Völkle spricht über unbewusste Vorurteile. Ein Symposium „Quo vadis Feminist STS? Genealogien, Herausforderungen und Visionen feministischer Wissenschafts- und Technikforschung“ findet am 13./14. Juni an der Technischen Universität statt.

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