Wissen und Technik

Wald auf Rezept

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Dass, wenn man nicht gerade von einem Baum erschlagen wird, Waldspaziergänge nicht ungesund sind, gilt als sicher. Warum das so ist, ist nicht ganz so banal.

Stammland. Irgendwie gehört der Mensch noch immer in den Wald.

Es gibt tatsächlich Mediziner, die gerne Aufenthalte im Wald per Rezept verordnen würden. Dass frische Luft nun eben mal gesund ist oder andere eher diffuse Thesen sind nicht ihr Argument. Sie berufen sich auf Studien, die nahelegen, dass Waldspaziergänge das Immunsystem stimulieren, dem Selbstbewusstsein helfen, Depressionen lindern und die Krebsabwehr fördern. Diese Untersuchungen stammen vor allem aus Japan und Südkorea.

Wohltuende Warnsubstanz

Die Waldluft spielt dabei offenbar aber wirklich eine Rolle. Pflanzen nutzen Terpene zur Kommunikation. Mit diesen aus Blättern und Nadeln strömenden Substanzen warnen sie einander vor blattfressenden Insekten. Die Bedeutung der Terpene hat ein Forscherteam um Qing Li von der Nippon Medical School in Tokio an zwölf Versuchspersonen untersucht. Sechs übernachteten in einem Zimmer, ohne zu wissen, dass dort Terpene eingeleitet wurden. Die andere Hälfte schlief in einem Zimmer ohne Terpenzufuhr. Blutuntersuchungen dokumentierten, dass eingeatmete Terpene über den Blutkreislauf ins Gehirn gelangen. Sie scheinen dort die Produktion von Botenstoffen zu beeinflussen, die den Blutzuckerspiegel, Blutdruck und Stresshormonspiegel senken können.

Neben chemischen Reizen spielen offenbar auch optische eine Rolle. Dass bereits der Anblick eines realen Waldes den Stresshormonspiegel im Mittel um 13,4 Prozent sinken lassen kann, wies Yoshifumi Miyazaki von der Universität Chiba nach. Das passt zu Beobachtungen schwedischer Mediziner um Roger Ulrich. Deren Patienten brauchten nach Operationen weniger Schmerzmittel, wenn vor dem Fenster Grün wuchs. Die Studie zeigte auch, dass der Blick auf eine Hauswand mit mehr Komplikationen einherging. Sie schaffte es 1984 bis ins Wissenschaftsmagazin „Science“. Für eine Folgestudie ließ Ulrich auf einer Intensivstation Bilder aufhängen und verglich die Heilungsprozesse von 160 Herzpatienten. Die, die auf ein Foto mit einem locker bewaldeten Flussufer sahen, benötigten im Mittel weniger Medikamente und genasen schneller als Patienten, die abstrakte Gemälde oder nur die Wand sahen.

Reduzierter Stress durch reduzierte Stresshormone

Inzwischen gibt es auch Studien, etwa 2018 von Matthew White von der Universität Exeter und seinen Kollegen veröffentlicht, die zeigen, dass auch virtuelle Natur positive Wirkungen hat. White schreibt allerdings, „real-world nature“ sei vorzuziehen. Die muss aber nicht wild sein und jenseits der Stadtmauern liegen. Eine 2015 publizierte Studie einer Forschergruppe aus Chicago um Omid Kardan zeigte, dass in Wohngebieten der kanadischen Metropole Toronto dort, wo viele Bäume standen, die Gefahr, an Diabetes, Bluthochdruck oder Herz-Kreislaufstörungen zu erkranken, deutlich gesenkt war.

Zehn Bäume mehr um einen Wohnblock, so eine ihrer Schlussfolgerungen, verjüngen den Gesundheitsstatus der Bewohner um statistisch sieben Jahre. Auch Studien aus Südkorea und Japan zeigen, dass es nicht der Spaziergang allein ist, der hilft: Eine Stunde Gehen im Wald führte im Vergleich zu einem Stadtspaziergang zu niedrigerem Blutdruck und deutlicher gesenkter Herzfrequenz. Eine erst in dieser Woche erschienene Untersuchung an der University of Michigan kommt zu dem Ergebnis, dass schon 20 Minuten den Kortisolspiegel deutlich senken.

Wald scheint auch dem Immunsystem helfen zu können: Ein Team um Qing Li wies 2009 bei Personen, die binnen drei Tagen sechs Stunden Waldspaziergänge gemacht hatten, eine erhöhte Zahl und Aktivität „Natürlicher Killerzellen“ nach. Dazu kam auch hier, dass die Stresshormon-Konzentrationen deutlich sanken.

Der Effekt auf die Immunzellen hielt bis zu sieben Tage an. Da natürliche Killerzellen auch Tumorzellen angreifen, stellt Li, aktuell Präsident der Japanischen Gesellschaft für Wald-Medizin, die These auf, dass regelmäßige Waldspaziergänge Krebserkrankungen vorbeugen könnten. Er empfiehlt pro Monat zwei volle Tage in einem Wald zu verbringen.

Wald-Chemie, Wald-Optik, Wald-Akustik

Li ist mit „Wald auf Rezept“ in Japan kein Medizin-Außenseiter. Dort gehören Waldbesuche zur Gesundheitsvorsorge. „Shinrin-yoku“ , zu deutsch „Waldbaden“, wird vom Gesundheitssystem gefördert. Und japanische Ärzte stellen tatsächlich Shinrin-yoku-Rezepte aus. Den ersten deutschen Heilwald gibt es seit 2017 nahe dem Ostseebad Heringsdorf. Die 180 Hektar dort stehen aber bislang auf keiner von der Kasse bezahlten Verordnung.

Insook Lees Forschungsgruppe an der Seoul National University wertete 2017 die Ergebnisse von 28 Studien zur Wirksamkeit von Waldtherapien bei Depressionen aus. In 21 von 28 Studien verbesserten sie signifikant depressive Zustände. Spaziergänge alleine scheinen hier allerdings nicht auszureichen. Die Autoren empfehlen den Wald eher als Teil individualisierter Therapiekonzepte.

Aber der Wald scheint weit mehr zu sein als die Summe seiner Bäume – also all der optischen Reize und über menschliche Schleimhäute aufgenommenen Botenstoffe. Forscher der University of Exeter, des British Trust for Ornithology und der University of Queensland fanden Hinweise, dass Menschen sich umso glücklicher einschätzen, je mehr Vögel sie hören und sehen, je mehr Bäume und Büsche sie wahrnehmen. Bereits das Plätschern eines Baches oder der Wellenschlag eines Sees könnten die Stimmung aufhellen. Neben Naturchemikalien und optischen Reizen spielt also auch die Akustik ihre Rolle.

E.O. Wilsons “Biophilia”

Mit der freien Natur – und speziell dem Wald – sei der Mensch entwicklungsgeschichtlich so eng verbunden, dass diese Beziehung förmlich im Erbgut festgeschrieben sei, ist der Evolutionsbiologe Edward O. Wilson von der Harvard University überzeugt. Er nennt diese genetisch fixierte Neigung zu allem Lebendigen „Biophilia“.

Ein Problem ist, dass die meisten Studien mit eher wenigen Probanden und oft auch ohne Kontrollgruppen durchgeführt wurden. Angela Schuh, Professorin für Medizinische Klimatologie an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität, warnt auch aus anderen Gründen vor allzu schnellen oder euphorischen Schlüssen. Da die Erkenntnisse überwiegend auf Ergebnissen aus Japan und Korea basierten, sei es möglich, dass heimische Wälder auf hier heimische Menschen etwas anders wirken könnten.

Aber auch die deutsche Medizin ist inzwischen im Wald angelangt. Der bayerische Heilbäderverband etwa hat ein Heilwälder-Projekt gestartet. Und der Lehrstuhl für Naturheilkunde an der Universität Rostock bietet Waldtherapie als Kurs an. Die offenbar nötigen profunden weiteren Studien sind dort aber bislang, soweit bekannt, nicht geplant.

Der Autor beschreibt seine eigenen Erfahrungen mit der Heilkraft der Natur im Buch „Wildes Leben am großen Strom. Mein Uckermarkjahr“ (Ehm Welk, 2019)

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