Wissen und Technik

Die Technologie der Pusteblume

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Löwenzahnsamen können weit fliegen. Sehr weit. Eigentlich zu weit, rein physikalisch betrachtet. Nun lüftet sich, im Wortsinne, ihr Geheimnis.

Alte Schweber. Löwenzahnsamen fliegen kilometerweit. Wie sie das machen, wusste bislang niemand, denn eigentlich müssten sie recht…

Man muss einen Artikel über Löwenzahn eigentlich mit Peter Lustig beginnen. Dessen Sendung, die ganze Generationen beeinflusst hat, hieß schließlich so, am Anfang hieß sie sogar „Pusteblume“. Das haben wir hiermit also getan. Nun aber zum eigentlichen Thema, der Frage, wie die Samen des Löwenzahns fliegen. Sie tun es anders als bisher gedacht, mithilfe eines bislang völlig unbekannten Strömungsverhaltens. Das hat ein Physikerteam an der Uni Edinburgh herausgefunden und im Fachmagazin „Nature“ darüber einen großen Artikel veröffentlicht.

Der Flug der Java-Gurke

Die Samen – oder wissenschaftlich korrekter ausgedrückt: die Früchte des Löwenzahns – hängen am Ende eines kleinen Stäbchens, von dessen anderem Ende ein Strahlenkranz von Härchen-Filamenten abzweigt, der einem unbespannten Regenschirm ähnelt (Video). Tatsächlich liegt hier genau der Ursprung der Frage, die die Forscher sich stellten: Warum nutzt Löwenzahn diese Struktur und keine eher geschlossene Fläche – also etwa Häutchen, die den Schirm schließen und weniger Luft durchlassen würden? Viele andere Pflanzen haben jedenfalls genau solche Strategien entwickelt. Ahornsamen etwa haben eine Art Tragflächen, die im Flug auch noch zu Propellern werden. Das sorgt dafür, dass sie, im Gegensatz etwa zu Äpfeln, recht weit vom Stamm herunterfallen können, und ist von Vorteil. Denn weiter weg ist zumindest der eigene Elternbaum kein Konkurrent mehr. Perfektioniert hat dieses Prinzip die Java-Gurke, auch Zanonia genannt, deren Samen gleichsam als Piloten in einem fast perfekten Gleitflieger sitzen.

Zugig. Der Wirbel über dem Pusteblumensamen zieht ihn nach oben.

Im Vergleich dazu galten Samen der Pusteblume bislang als nicht ganz so ausgereifte Varianten pflanzlicher Flugapparate. „Man nahm an, dass die Härchen eben einen Luftwiderstand haben und all diese Luftwiderstände sich dann addieren, und dass dies dann ganz simpel den Fall abbremst“, sagt Andreas Dillmann, Aerodynamik-Forscher am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Die Pusteblume wäre damit vor allem von der Puste des Windes – oder auch eines pustenden Kindes – abhängig, wenn es darum geht, Samen möglichst weit weg von der auch nicht gerade baumhohen Mutterpflanze niedergehen zu lassen.

Tatsächlich aber, so fand das Team von Ignazio Maria Viola in Edinburg heraus, passiert aerodynamisch – oder, wieder wissenschaftlich korrekter ausgedrückt: fluiddynamisch – viel mehr in der direkten Umgebung der kleinen Schirmchen. Und offenbar bremst sie nicht der Widerstand, den die Schirmfilamente der Luft, die sie von unten durchströmt, entgegensetzen. Sondern ein stabiler Luftwirbel. Der bildet sich oberhalb der Filamente in einem festen Abstand von dieser auch „Pappus“ genannten Struktur.

Auf den Wirbel ist Verlass

„Wichtig ist, dass die Filamente fast wie ein geschlossener Schirm wirken, aber doch eine bestimmte Menge Luft hindurchströmt“, sagt Cathal Cummins, der als Doktorand die meisten Experimente der Untersuchung machte. Nur so könne der stabile Wirbel entstehen.

Entscheidend sind Druckunterschiede, die sich rund um den Samen mit seinem Schirmchen ergeben: Die Luft, die durch die Filamente hindurchtritt, hat vergleichsweise niedrigen Druck, Luft über dem Schirmchen einen eher hohen. Weil, ähnlich wie beim Wetter, Luft aus Gebieten mit hohem Druck in Richtung des niedrigen fließt, bildet sich eine Zone praktisch ohne Luftbewegung kurz über dem Schirmchen. Hier kommt die Luft, die außen um das Schirmchen herumströmt, ins Spiel. Sie wird ebenfalls von dem niedrigen Druck über dem Schirm angezogen. Durch die Kombination all dieser Faktoren und den steten Luftnachschub durch die Filamente entsteht der Wirbel oberhalb des Schirmchens. Anders als ähnliche Wirbel, die in der Aero- und Fluiddynamik oft beobachtet werden, reißt er nie ab. Er bleibt, solange der Same fliegt, immer stabil. Damit bleibt auch der Flug stabil und Pusteblumensamen geraten nie ins Taumeln.

Ein solcher „Separated Vortex Ring“, kurz SVR, wie die Forscher das Phänomen nennen, war bislang unbekannt. „Der niedrige Druck in dem Wirbel ist es, der den Löwenzahnsamen gleichsam nach oben saugt, also dafür sorgt, dass er langsamer fällt“, sagt Naomi Nakayama, die das Projekt mitbetreut hat. Entscheidend sei die richtige Rate von Luftstrom durch die Filamente. „Dafür braucht der Löwenzahn vergleichsweise wenig dieser Filamente, spart also an Gewicht.“ Auch das trage zu den besonderen Flugeigenschaften der Samen bei. „Der Schirm des Löwenzahns ist zu 90 Prozent offen, funktioniert aber viermal effektiver als ein geschlossener“, sagt Cummins.

Kommt die Pusteblumendrohne?

Ob Vergleichbares anderswo in der Natur auch eine Rolle spielt? Die Forscher sagen, sie wissen es nicht, wollen sich der Frage aber widmen. Ähnliche Strukturen gibt es jedenfalls zuhauf, nicht nur bei Löwenzahn oder auch dem verwandten Bocksbart, sondern bei Samen vieler anderer, entwicklungsgeschichtlich auch weit voneinander entfernter Pflanzengruppen von Disteln bis Baumwolle. Auch winzige Fliegen wie die Thripse verzichten genau wie der Löwenzahn bei ihrem Flugapparat auf eine durchgehende Membran. Sie heißen auch „Fransenflügler“ und nutzen ganz ähnlich anmutende Filamente. „Die funktionieren aerodynamisch offensichtlich genauso gut oder besser als die durchgehende Struktur, sind aber leichter und brauchen weniger Material“, sagt Cummins. Und vielleicht helfen sie auch dabei, besser und stabiler zu fliegen.

Auch Vogelgefieder sei an manchen Stellen luftdurchlässig, sagt Albert Baars, Fluidmechaniker an der Hochschule Bremen. Dass ein ähnlicher Effekt zusätzlich zu den bekannten Auftriebmechanismen bei den Tieren eine Rolle spielt, könne man „nicht ausschließen“. Er könnte vielleicht auch bei Steuermechanismen für Flugmanöver eine Rolle spielen. Denn hier sind abreißende Wirbel sehr störend, stabile dagegen wären eine verlässliche Hilfe. „Die Stabilität dieses Wirbels ist jedenfalls das Interessanteste an diesen Ergebnissen“, sagt Baars.

Wo in der Natur sie noch zum Einsatz kommt – und wo sie vielleicht in der Technik zum Einsatz kommen kann –, muss also noch untersucht werden. DLR-Forscher Dillman jedenfalls denkt schon über kleine Schwebe-Drohnen nach.

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