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Den Schulbesuch verweigert

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Um sich der deutschen Schulpflicht zu entziehen, flohen vor über zehn Jahren zwei Brüder aus Bremen nach Frankreich. Wie geht es ihnen heute?

Unbeschult. Der Bremer Schulverweigerer Moritz Neubronner.

Sie saßen im Gerichtssaal in der ersten Zuhörerreihe, wurden fotografiert, gefilmt und interviewt, als wären sie Prominente oder Exoten: Zehn Jahre ist es jetzt her, dass Thomas und Moritz Neubronner gemeinsam mit ihren Eltern vor dem Oberverwaltungsgericht Bremen versuchten, von der Schulbesuchspflicht befreit zu werden. Die beiden Neun- und Zwölfjährigen wollten lieber zu Hause lernen. Doch das OVG wies ihre Klage ab, wie zuvor schon das Verwaltungsgericht. Denn „Homeschooling“ sei nur in besonderen Ausnahmefällen erlaubt, etwa bei Diplomaten oder Schaustellern. Doch Familie Neubronner blieb dabei: kein Schulbesuch.
Ein Jahrzehnt später: Aus den kleinen Jungen sind hochgewachsene junge Männer geworden, 19 und 22 Jahre alt. Man glaubt es kaum, aber auch ohne jahrelangen Schulbesuch haben sie inzwischen ihr Abitur abgelegt, und sie wirken völlig normal, keineswegs wie Exoten.
Thomas und Moritz hatten sich einst an der Grundschule so unwohl gefühlt, dass die Familie 2005 den Unterricht in die eigene Hand nahm. Jahrelang wurden die Brüder zu Hause von ihren freiberuflichen Eltern unterrichtet oder lernten sogar ganz allein nach Lust und Laune.
Ein klarer Verstoß gegen die deutsche Schulbesuchspflicht. Als die Bremer Bildungsbehörde Zwangsgelder verhängte und die Eltern zudem den Entzug des Sorgerechts befürchteten, sagten sie ihrer Heimat adieu: Der Vater zog 2008 mit den Kindern offiziell nach Frankreich, wo Heimunterricht unter bestimmten Bedingungen erlaubt ist. Wie oft sie sich dort tatsächlich aufhielten, verraten sie lieber nicht. Erst als Jugendliche wollten die beiden doch noch mal Schulluft schnuppern und vor allem einen Abschluss erwerben: Die wohl bekanntesten Schulverweigerer Deutschlands setzten sich jeweils für ein halbes Jahr in eine zehnte Gesamtschulklasse und machten dort ihren Mittleren Schulabschluss.

Haben sie ohne Schulabschluss genug fürs Leben gelernt?

Aber damit nicht genug. Beide haben inzwischen auch noch das Abitur geschafft: als externe Prüflinge einer Erwachsenenschule. Moritz bereitete sich allein darauf vor, während Thomas vorher lieber ein Jahr lang ein Privatgymnasium besuchte. Sein Abi-Notenschnitt: 2,0. Er sucht jetzt einen Ausbildungsplatz als Mediengestalter, möglichst in der Filmbranche.
Moritz brachte es auf einen Schnitt von 2,5 und studiert inzwischen Kommunikations- und Medienwissenschaft mit Nebenfach Philosophie. Sein Berufswunsch: Journalist.Sprachgewandt ist Moritz auf jeden Fall. Aber hat er ohne dauerhaften Schulbesuch genug fürs Studium und fürs Leben gelernt? „Ich komme wunderbar klar“, sagt er. „Ich bin bestimmt nicht der strebsamste, aber auch nicht der schlimmste Student.“ Er geht viel auf Partys und in Kneipen, engagiert sich aber auch als Studierendenvertreter.
Sozial integriert ist er also, ebenso wie sein jüngerer und stillerer Bruder: Thomas spielt Gitarre in zwei Rockbands und hat auch ohne längeren Schulbesuch Freunde gefunden. „Die Schule hat ja kein Monopol auf Freundschaften“, sagt er. Bei seinen Stippvisiten an der Oberschule und dem Privatgymnasium musste sich Thomas „erstmal ein bisschen reinfinden“, wie er sagt. „Das ging aber ganz gut.“ Was ihn am Schulbetrieb stört: „Man muss auf Prüfungen hin lernen und sich mit Zeug befassen, das einen überhaupt nicht interessiert.“ Und das die meisten nie wieder brauchen werden – zum Beispiel mathematische Kurvendiskussionen. „Ich bin froh, dass ich das nicht zwölf Jahre lang haben musste.”

Die Schulbehörde verteidigt die Schulpflicht

Weder die Söhne noch die inzwischen geschiedenen Eltern bereuen ihren unbequemen „Schul-Weg“. „Es hat doch super geklappt“, sagt Thomas. Der Vater, Diplom-Sozialpädagoge Tilman Neubronner (64), meint: „Entscheidend ist doch, mit dem eigenen Leben klarzukommen und nicht der Allgemeinheit zur Last zu fallen.“ Leicht ironisch fügt er hinzu: „Keiner der beiden ist im Knast gelandet, keiner braucht einen Betreuer vom Jugendamt.“
Mutter Dagmar Neubronner (59), Kleinverlegerin und Heilpraktikerin, versichert: „Ich würde es sofort wieder machen.“ „Meine Söhne haben so viel Zeit für sich gehabt, statt im Standby-Modus in der Schule abzuhängen.“
Also ein Modell auch für andere Familien? Die Mutter findet: ja. Zumindest aber, da sind sich alle vier einig, sollte auch in Deutschland freie Wahl zwischen Schul- und Heimunterricht gelten. Sie räumen allerdings ein, dass sie als Freiberufler-Familie günstige Rahmenbedingungen hatten. „Natürlich wäre so ein Modell schwierig für Familien, in denen die Eltern den ganzen Tag nicht zu Hause sind“, glaubt Thomas.
Und was meint die Bremer Bildungsbehörde zum Happy End der Schulverweigerer? „Wir freuen uns über die Entwicklung der jungen Männer“, erklärt eine Sprecherin. Dass Schulabschlüsse auch ohne Unterrichtsbesuch zu schaffen seien, „haben wir nie bestritten“. Aber: Das „partikularisierte Lernen“, also jeder für sich, könne für eine demokratische Gesellschaft kein Modell sein. Denn: „Schule ist einer der wenigen Orte, wo alle zusammenkommen und unter anderem auch Unterschiede kennen und tolerieren lernen können.“

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