Wissen und Technik

Das schlechte Gewissen der Forschung kommt nach Berlin

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John Ioannidis erforscht, wie oft und warum Wissenschaft scheitert – an der Stanford-University und nun auch am BIH.

Am Berlin Institute of Health (BIH) wird John Ioannidis von der Stanford University (Mitte) als Gastwissenschaftler das…

Er ist der Stachel im Sitzfleisch einer trägen, sich selbst nicht hinterfragenden Wissenschaft. Er ist es, der die Qualität von Forschung anzweifelt. Der seit 2005 vorrechnet, dass die Ergebnisse der meisten mit vielen Steuergeldern finanzierten Studien falsch sind. Dass 85 Prozent der Forschungsressourcen „verschwendet“ werden. Und dass das Schönreden oder Kaschieren schlechter Studienresultate kein Kavaliersdelikt ist, sondern eine „Frage von Leben und Tod“ sein kann – etwa wenn schlampige biomedizinische Forschung zu sinnlosen oder gar gefährlichen Experimenten an Patienten führt. Eben jenes personifizierte schlechte Gewissen der Wissenschaft, der Gesundheitswissenschaftler John Ioannidis von der Stanford University, wird künftig auch in Berlin forschen: „Wir wollen herausfinden, wie Forschung besser funktionieren kann“. Am Mittwoch eröffnete der 54-Jährige am QUEST-Center des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung (BIH) ein „Schwesterinstitut“ seines kalifornischen Forschungszentrums METRICS, das METRIC-Berlin. Mit Unterstützung der Einstein-Stiftung und der Stiftung Charité wird der in New York geborene, in Athen aufgewachsene Mathematiker und Mediziner Gastwissenschaftler (Visiting Fellow) am BIH.

Problembewusstsein geweckt

Das es gelingen könne, Ioannidis, den „Rockstar“ der Meta-Forschung, den Erforscher der Forschung, nach Berlin zu holen, hätte sich Quest-Direktor Ulrich Dirnagl nicht träumen lassen. Es sei ein Vorschlag des ehemaligen Wissenschaftssenators Jürgen Zöllner, inzwischen Chef der Stiftung Charité, gewesen. „Ioannidis ist es gelungen, das Problembewusstsein der Qualitätssicherung in den Wissenschaften zu wecken“, sagte Zöllner anlässlich der Metric-Berlin-Eröffnung. Das sei aber nicht nur für eine bessere Qualität der Forschung – an Charité und anderswo – wichtig, „sondern für die gesamte Gesellschaft“. Die vielen aktuellen Diskussionen, in denen Fakten immer mehr in Frage gestellt werden, vom Klimawandel bis zur Masernimpfung, hätten etwas zu tun mit einem Vertrauensverlust in Wissenschaft. Und sogar die Forscher selbst zweifeln am System. Einer Umfrage von 2009 zufolge hätten zwei Prozent der befragten Forscher zugegeben, Daten zu fälschen, ein Drittel gab an, Ergebnisse schon mal geschönt zu haben. Unnötigen Ausgaben von 100 Milliarden Euro jährlich seien die Folge, so Zöllner.

Seit Ioannidis wird das Problem nicht mehr ignoriert. Tausendfach sind seine Arbeiten zitiert und millionenfach heruntergeladen worden, in denen er mit Daten belegt, dass Forschungsstudien viel häufiger als angenommen schlecht geplant, schlecht durchgeführt, oder selbst wenn sie gut und wertvoll sind viel zu lange oder gar nicht veröffentlicht werden.

Über die Hälfte der Forschungsergebnisse falsch – “Das tut weh”

An seinem Metrics-Zentrum – und nun auch in Berlin – erforscht Ioannidis deshalb, „wie wir Wissenschaft betreiben, planen, analysieren, belohnen, evaluieren, Ergebnisse verbreiten. Und ob es sinnvoll ist, wie wir es tun und wie man am besten Nutzen aus Wissenschaft ziehen kann.“ Denn bei aller Kritik ist Ioannidis keineswegs ein „Feind“ der Wissenschaft oder gar ein Zyniker, der nicht daran glauben kann, dass Forscher die Fehler der eigenen Zunft erkennen und das System ändern könnten. „Wissenschaft ist eindeutig das beste, was den Menschen passieren konnte und ihre Effizienz und Fähigkeit, die Welt zu verändern, ist entscheidend für unsere Zukunft als Spezies“, sagt er. Man könne viel tun, um die Fehler des Systems abzustellen und verlässlichere, wissenschaftlich fundierte Anworten auf wichtige Fragen zu bekommen. Berlin habe mit dem Quest-Center des BIH bereits eine gute Basis dafür.

Dass über die Hälfte von dem, was man forsche, womöglich falsch sei, das „tue erst einmal weh“, sagt Axel Radlach Pries, Dekan der Charité. Das erzeuge große Verunsicherung und „Abwehrspannung“. Deshalb sei es wichtig, den Prozess „proaktiv“ und „sensibel“ zu verbessern. In diesem Sinne sei Ioannidis eine „Bereicherung“ für die Charité.

Anreizsysteme für bessere Forschung schaffen

Denn die Uniklinik steht der internationalen Wissenschaft und ihren Versäumnissen in der Qualitätskontrolle in nichts nach: So werden die Ergebnisse von 60 Prozent der klinischen Studien an der Charité nicht wie vorgeschrieben innerhalb von zwei Jahren veröffentlicht, sagt Ulrich Dirnagl, Gründer und Leiter des Quest-Centers, der eng mit Ioannidis zusammenarbeiten wird. „Weniger als die Hälfte der präklinischen Studien erfüllen die Standards, die für solide, statistisch belastbare Aussagen nötig wären, etwa Randomisierung und Verblindung.“ Und von weniger als fünf Prozent der klinischen Studien der Charité werden die Rohdaten anderen Forschern zur Überprüfung oder Nutzung öffentlich zugänglich gemacht. „Das ist nicht nur an der Charité, sondern weltweit so“, sagt Dirnagl. Gemeinsam mit Ioannidis will der Forscher nicht nur kritisieren, sondern auch Anreizsysteme für Forscher schaffen, es besser zu machen. So lobt das Quest-Center Preise aus für Forscher, die Experimente anderer Arbeitsgruppe überprüfen oder die ihre Daten auf öffentlichen Servern anderen zur Verfügung stellen.

Dabei spielt das Geld allerdings eine untergeordnete Rolle, in erster Linie sollen Hilfsmittel für eine bessere Forschung entwickelt und das Problembewusstsein geschärft werden. In der Pharmazie sei das seit jeher stärker ausgeprägt, meint Martin Lohse, Vorstand des Max-Delbrück-Centrums. „Man geht davon aus, dass in der biologischen Grundlagenforschung Dinge falsch sein könnten“, daher würden Schlüsselexperimente in der Regel „nachgekocht“. Denn im Feld der Grundlagenforschung bewege man sich auf unsicherem Terrain, dem Gebiet der Entdeckung. „Man kann Kolumbus nicht vorwerfen, dass er keinen Reiseplan gemalt hat und er hat auch nicht entdeckt, was er entdecken wollte“, sagt Lohse. Trotzdem sei das Ergebnis großartig gewesen. Es könne sein, dass Forscher etwas finden, was sie am Anfang noch nicht verstehen. „Dann muss man weiterforschen und so lange überprüfen, bis man sich sicher sein kann.“

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